Polnische Polit-Reality
Paweł Goźliński

Das Fernsehen dramatisiert immer mehr die polnische Politik. So drohte der Sturz der Regierung durch die Sendung eines Videos, das mit versteckter Kamera den Kuhhandel zwischen zwei Abgeordneten publik machte. Dabei entdecken diese das politische Potenzial, das in der Aufklärung von Skandalen steckt und gehen immer lieber der Arbeit in verschiedenen Untersuchungskommissionen nach. Populär sind Visionen der „Sanierung“ von Staat und Gesellschaft, die von einer Flucht vor der Gegenwart begleitet werden und zur Krise des unabhängigen Journalismus führen. Paweł Goźliński, Leiter der Reportageabteilung der „Gazeta Wyborcza“ sowie des Reportagemagazins „Duży Format“, analysiert die politische und mediale Wirklichkeit in Polen durch die Brille des Theaterwissenschaftlers und sucht nach Gegenmitteln für quälende Wahnerscheinungen.

In der Nacht des 27. September 2006 zeigte der Fernsehsender TVN24 eine scheinbar perfekt inszenierte politische Reality-Show: Aus einem Hotelzimmer lieferte eine versteckte Kamera verwackelte Bilder, etwas unscharf, der Ton unzureichend, aber auch so konnte ganz Polen problemlos die Protagonisten erkennen. Die Bilder zeigten Renata Beger, Abgeordnete der Samoobrona, einer rechtspopulistischen Formation, die als rüpelnder Bauernverbund namens „Selbstverteidigung“ in Erscheinung tritt. Die ehemalige Thekendame, Verkäuferin von Champignons und Würstchen und bekannt durch die schwachsinnigen Fragen, die sie den Verhörten vor der Sejm-Kommission zur Untersuchung der so genannten Rywin-Affäre stellte, diskutiert neben der Tischpalme sitzend mit Adam Lipiński. Zu Zeiten der kommunistischen Diktatur lebte Lipiński als Kämpfer der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność jahrelang im Untergrund. Schnell avancierte er nach der Wende zum Mitstreiter von Ministerpräsident Jarosław und Staatspräsident Lech Kaczyński; wie die meisten polnischen Politiker mit katholisch-nationalem Weltbild begannen die Herren ihre Karrieren in den 1980er-Jahren in der oppositionellen Gewerkschaftsrolle. Heute arbeitet Lipiński als Kanzleichef für Jarosław.

Renata Beger fiel bei ihrem Parteichef Andrzej Lepper mit einem durchschauten Wahlbetrug in Ungnade. Wie alle Mitglieder der Samoobrona-Fraktion ist sie durch einen geheimen Knebelvertrag bedroht, den sie im vergangenen Jahr Lepper unterschrieb: Im Fall eines politischen Seitenwechsels verpflichtete sie sich zu einer Geldbuße von umgerechnet mehr als 100.000 Euro. „Wir haben viele freie Posten“, Andrzej Lipiński, Gründer der rechten Wochenzeitschrift Neuer Staat, bot der Samoobrona-Abgeordneten einen Job als Staatssekretärin zur Belohnung für die Unterstützung der PiS an und warb in diesem Gespräch um weitere Überläufer. Nach dem Bruch der Koalition der Regierungspartei PiS mit Samoobrona verlor die Partei für „Recht und Gerechtigkeit“, PiS, die Mehrheit im Parlament. Platz eins auf der Liste der PiS in ihrem Wahlkreis, das wäre was für Renata Beger sowie zwei weitere „hohe Positionen“ für „meine Leute“. Während sie spricht und er mitschreibt, murmelt Lipiński immer wieder „nicht so schnell“ und: „Verstehe ... Ich notiere.“ Bei den „hohen Posten“ hakt er nach: „Vielleicht im Wojewodschaftsrat?“ - „Ja!“, sagt Renata Beger zum Stellenangebot im Regionalparlament. Zudem offerierte er ihr Geldmittel aus einem Fonds des Parlaments. Mit einer durch Beger initiierten Veröffentlichung auf dem Infokanal TV24 hatte Lipiński nicht gerechnet. Nach Auffassung der einen war dies ein Versuch der politischen Korruption, nach Auffassung anderer (denen zuzustimmen mir allerdings schwer fällt) ein normaler politischer Vorgang; für Adam Lipiński, ganz großzügiger Unterhändler, aber ein klarer Fall von Sabotage: „Was ist hier politische Korruption? ... Politik ist in gewissem Sinne eine hässliche Sache, aber was diese ganze Aufregung soll, ist mir schleierhaft.“

Die Veröffentlichung bedeutete eine gigantische Blamage für das Regierungslager, das bei den Wahlen 2005 mit Schlagwörtern wie „Zerschlagung der krankhaften Systeme“, „moralische Erneuerung“ und einer auf konservative Werte gestützten Politik hantierte. Für mich bedeutete dies ebenso der Triumph eines Phänomens, das ich „Performance“ innerhalb der polnischen Politik nenne. Ich beobachte das politische Alltagsgeschäft seit einigen Jahren als Redakteur mit theaterwissenschaftlichem Hintergrund bei der größten Tageszeitung Polens und kann nicht sagen, dass ich sonderlich begeistert wäre. Denn – wie die „Videokassetten der Wahrheit“ bewiesen haben – zeigen sie schlechtes Theater, das, entgegen allem Anschein, eben nicht belanglos oder unschuldig ist.

Der mediale Puls der Demokratie

Die politische Bühne und das Drama Koalition, das Wahlspektakel eine politische Farce – diese theatralen Metaphern sind in den gedruckten und elektronischen Medien so allgegenwärtig, dass sie sich schnell in nichts sagende Phrasen verwandelt haben. Andererseits kann uns diese Flut der Bühnenaufzüge aus Tragödien und schlechten Scherzen innerhalb des politischen Diskurses und in dem begleitenden Blätterrauschen auf ein echtes Problem aufmerksam machen: Das Leben ist hart für Politiker und Journalisten in einer Epoche, in der die Medien den Lebensrhythmus der Demokratie bestimmen.
Unter ihnen befindet sich an herausragender Stelle der erste und bislang einzige Informationssender unseres Fernsehprogramms, TVN24. Aus Anlass des gefeierten fünften Jahrestages des Senders diskutierte die Presse, inwiefern das Fernsehen Einfluss nimmt auf die Gestaltung des politischen Lebens in Polen: Wie das Fernsehen dramatisiert, indem es Politiker zu eigenartigen Schauspieleinlagen zwingt, wie es deren Kommunikation mit der Gesellschaft hat einzig rhetorisch werden lassen, wie es die öffentliche Debatte verflacht. Es sind doch nur die Worte, die plätschern und keine starke emotionale Botschaft transportieren. Inhaltslosigkeit beherrscht die Manege. Eigentlich weiß jeder, dass dieser geistige Dünnpfiff bei der Bildmontage „herausfallen“ oder im Informationsfluss untergehen sollte.

Jeder Tag bei TVN24 bietet Akte eines Polit-Spektakels, dem der Rahmen des Sendeformats feste Zügel angelegt hat. Die Zeit wichtiger politischer Erklärungen wird mit dem Timing der Nachrichten abgestimmt; zur besten Sendezeit müssen die Erklärungen vorliegen, damit die politische Konkurrenz nicht rechtzeitig mit einer Reaktion aufwartet. Die Opposition verharrt in ununterbrochener Bereitschaft mit einem Vorrat an fertigen Phrasen und Posen für jede Gelegenheit. Zum Schlüsselort für das Aufeinandertreffen von Kollektivbewusstsein und politischem Vorhaben mutieren die abendlichen Talk-Shows, in denen Politiker als talentierte Selbstdarsteller und Meister der Entgegnung beste Figur machen wollen. Wörter, die vom Bildschirm kommen, transportieren konkrete Macht: Die Tiraden vor der Kamera führen zu großen Triumphen und spektakulären Stürzen in der Politik. Mit Hilfe von Pressekonferenzen verständigen sich nicht nur Regierende mit der Opposition, sondern auch Mitglieder der regierenden Koalition untereinander. Und die eigenartige politische Reality-Show mit den Protagonisten Beger und Lipiński, die die schmutzigen Kulissen des politischen Geschäftes in Polen vorführte, hat das Land mit einer neuen Form des Politboulevard erschüttert.

„Rywingate“ und die „Kassetten der Wahrheit“

Die Abgeordnete Renata Beger weiß sehr wohl, welche Macht eine Livesendung in der Politik haben kann. Denn es ist eine Sache, etwas zu ahnen, aber etwas ganz anderes, es zu hören und mit eigenen Augen zu sehen. Nach der Ausstrahlung der „Kassetten der Wahrheit“ gab sie zu, sie habe sich ein Beispiel an Adam Michnik, Redakteur der Gazeta Wyborcza genommen. Michnik hatte, indem er ein normales Diktiergerät benutzte, 2002 die größte Affäre im demokratischen Polen losgetreten, das „Rywingate“. „Rywingate“ begann mit dem Vorschlag, den der bekannte, international agierende Filmproduzent Lew Rywin im Namen „einer Gruppe, die an der Macht ist“ von bis heute unklarer Zusammensetzung Adam Michnik unterbreitete. Es braucht schon unerhörte Dreistigkeit, um einem ehemaligen Führer der politischen Opposition, der um seiner Prinzipien willen viele Jahre im Gefängnis verbracht hat, die Aufgabe einer gerechten Lösung gegen die Zahlung von Schmiergeld in Höhe von einigen Dutzend Millionen Dollar anzubieten. Doch der Korruptionsversuch von Lew Rywin tauchte in einem Zeitraum auf, als es den Postkommunisten schien, sie könnten alles – auch die Spielregeln in der Welt der unabhängigen Medien – festlegen.

Sie haben sich verrechnet. Michnik zeichnete das Angebot auf, die Angelegenheit wurde publik und trat den Beginn der Enthüllung weiterer Affären los. Alles endete mit der Niederlage der Regierung bei den folgenden Parlamentswahlen. Dies ist im Übrigen ein festes Motiv in den Beziehungen zwischen polnischer Politik und Medien nach 1989: ohne Rücksicht darauf, ob es um den Gebrauch der Vierten Gewalt des Staates als Propagandaorgan oder als Werkzeug der „Erziehung“ (meint: der ideologischen Indoktrination) geht. Die nachfolgenden Regierungsmannschaften behandeln die Medien mehr oder weniger offen als politische Beute. Viele Möglichkeiten bieten sich an: denn öffentliches Fernsehen und Radio sind nur dem Anschein nach öffentlich. In der Realität wird die Führung jener Institutionen – im Namen des Rechts – nach politischer Parität gebildet. Wenn wir die Konzessionierung des Fernsehmarktes und die Bestrebungen, die Eigentumsverhältnisse auf dem Medienmarkt zu regulieren, hinnehmen, dann wird deutlich, dass die Unabhängigkeit des Journalismus in Polen kein absoluter Wert ist, der politischen Einflüssen ausgesetzt ist.

Von der Kommission zu permanenten Ermittlungen

Zur Entwirrung der Rywin-Affäre wurde die erste Sonderermittlungskommission in der Geschichte des polnischen Parlamentarismus einberufen. Und so begann die Show: Die Sitzungen der Kommission wurden live geschaltet und so zu einer der meistgesehenen Sendungen in Serie in der Geschichte des polnischen Fernsehens. Deren begabtere oder charakterstärkere Mitglieder wurden beinahe über Nacht zu Leitfiguren der polnischen Politik. Dennoch geschah etwas wesentlich Schwerwiegenderes: Die Korruptionsaffäre – ein Missstand und nicht die Norm öffentlichen Lebens – wurde zum Modell für das Funktionieren des gesamten politischen Alltags in Polen. Schlüsselentscheidungen wurden um der Interessen eben jenes Systems willen getroffen, das so gut wie identisch mit dem der Republik war. Der Dritten Republik wohlgemerkt. Nicht weiter verwunderlich also, dass gleichzeitig Visionen von der totalen „Erneuerung“ des Staates und der Rückerziehung der Gesellschaft in den Kampagnen der PiS mit dem Wahlherbst 2005 an Popularität gewannen. Die Slogans wetterten einen Neubeginn herbei, einen Gründungsakt einer gesäuberten Vierten Republik, die auf den Trümmern des verurteilten und zu Staub zermalmten Systems entstehen sollte. Diese ideologisch ungewöhnlich
weit reichende und reizvolle, weil alles erklärende Vision wurde zum Programm des neuen siegreichen Machtlagers. Schleichend begannen Politiker, die Bedeutung der investigativen Journalisten zu ersetzen. Man könnte meinen, dies sei eine Rückkehr zur Normalität, denn schließlich sollten ja Politiker und vor allem Staatsanwälte und Richter und nicht Journalisten die Rechtsstaatlichkeit bewachen. Und doch habe ich den Eindruck, dass dem Verständnis von Demokratie in der Vierten Republik nicht die Vision eines Rechtsstaates zugrunde liegt, sondern ein ideologisches Vorhaben, eine sonderbare Frucht mythologischen Denkens, bei dem die von Grund auf paranoide These von den besudelten Ursprüngen der polnischen Unabhängigkeit an erster Stelle steht. Es kam zu einem verheerenden Kompromiss zwischen der kommunistischen Obrigkeit und einem Teil der Opposition, der den Beginn eines „Systems“ bildete, das seit 1989 begann, das Land einzuschränken.

Jahre nach dem Streik der Werftarbeiter als Zeichen der Solidarität für die entlassene Kranführerin Anna Walentynowicz, als die Kandidaten der Solidarność-Bewegung endlich die parlamentarischen Wahlen gewannen, bedeutete dies das siegreiche Ende eines langjährigen Widerstandes gegen die kommunistischen Machthaber. Zum ersten Mal bot sich innerhalb des Warschauer Pakts die Möglichkeit, eine Regierung unter Führung eines nichtkommunistischen Ministerpräsidenten zu erstellen. Jener signifikante Durchbruch wurde zu einem bedeutenden Impuls für die Länder des Ostblocks, der auch zur friedvollen Revolution in der DDR und zum Fall der Berliner Mauer im November desselben Jahres führte. Doch seit Januar 2005 zeigt der Blick auf die Anfangsjahre der Freiheit eine ganz andere Geschichtsschreibung. Die Anstrengungen um eine angemessene Betrachtung und Erinnerung der Phase kommunistischer Herrschaft sind ein wichtiges Thema in Polen; das Institut für Nationales Gedenken, ehemals gegründet, um deutschen Kriegsverbrechern den Prozess zu machen, fungiert inzwischen als eine Art Gauck-Behörde. Im Januar 2005 brachte Bronisław Wildstein, ehemaliger Journalist der zweitgrößten polnischen Tageszeitung, „Rzeczpospolita“, „Die Republik“, aus dem Institut eine Liste mit über 240.000 mutmaßlichen Mitarbeitern der Sicherheitsbehörde in Umlauf. Der Skandal erschüttert die polnische Gesellschaft weiterhin in ihren Grundfesten. Mit der Służba Bezpieczeństwa, der Sicherheitsbehörde, verfügte auch Polen über eine Stasi.

Infolgedessen verwickelt sich die polnische Politik in permanente Ermittlungen. Man könnte glauben, sie ermüde die Öffentlichkeit, denn diese kann Wiederholungen eines Spektakels nicht ausstehen. Das Gegenteil jedoch ist der Fall: Sie liebt das Wiederaufrufen dessen, was bekannt, vertraut und einfach verständlich ist. Die Mission des investigativen Journalismus ist nun nicht mehr die Aufdeckung der krankhaften Elemente innerhalb des öffentlichen Lebens oder einer derart geprägten Wirtschaft, sondern die Bestärkung eines Realitätsbildes, das die Manipulatoren als das ihre anerkannt haben. Als 2002 die Rywin-Affäre losbrach, erlebte der investigative Journalismus große Tage. Die Enthüllungen führten unbekannte Elemente der Wirklichkeit vor, kompromittierten die Regierenden und zwangen sie zur Veränderung des Politikbetriebs. Dennoch entstand als Nebeneffekt des Aufdeckens – insbesondere, wenn sich Politiker daran zu schaffen machten – die Verstärkung einer paranoiden Sichtweise auf die gesellschaftliche Realität.

Ich habe den Eindruck, dass die Vorstellungskraft der Massen heute uneingeschränkt von Wahnvorstellungen bestimmt wird. Was sollen Journalisten in solch einer Situation tun? Was ist mit ihrer aufklärenden Mission? Nun gut, diese Mission befand sich in einer offenkundigen Krise. Neuerliche Affären fügten dem binären Bild der Realität nicht mehr viel hinzu. Es gibt das System und die „Sauberen“. Der Korrektur können nur noch die Randgebiete jener zwei Bereiche unterliegen.

Flucht vor der Gegenwart

Zum lebendigen Wirkungsbereich der Politik ist die Historiographie geworden. Der Zugriff von Journalisten auf die Akten des Instituts des Nationalen Gedenken und die Zusammenarbeit mit Historikern hat die entstandene Fülle von Publikationen Früchte tragen lassen, die – gemäß den Erklärungen der vornehmlich konservativen Publizisten – das Bild der jüngsten polnischen Geschichte vertiefen, es entmythologisieren und nuancieren sollen. Wir dürfen dennoch nicht vergessen, dass sich dieser Prozess der „Vertiefung“ auf der Performance-Bühne der Politik und Medien abspielt. Und was sagte einer der Altmeister des polnischen Theaters so schön: „Auf der Bühne, meine Herrschaften, da spielt man keine Geige, sondern haut auf die Trommel.“

Anstelle von Geschichtsnuancen haben wir also einen von Journalisten ausgetragenen brutalen Kampf um das Vergangenheitsbild. Die Geschichte der Opposition wird als ein einziger sittlicher Morast dargestellt. Auf der Grundlage zweifelhafter Akten der Sicherheitsbehörde werden Thesen von der „Mitarbeit“ bis zu diesem Zeitpunkt unbestrittener Autoritäten aufgestellt; die Jagd auf „Agenten“ ohne besonderes Ansehen der jeweiligen Motive und Kontexte des „Verrats“ dauert an.

Mir scheint, dass diese Geschichtsrevision eine Art Flucht vor der Gegenwart ist, die sich der Wirklichkeit anhand einfacher Schemata entzieht; sie ist eine vielschichtige Momentaufnahme und will sich von keinerlei journalistischen Qualitätsanforderungen einfangen lassen. Diesem nicht, und auch dem Konsumenten nicht, werden drei Sätze Kommentar nach den Fernsehnachrichten gerecht. Solange sich die Gegenwart also den Journalisten entzieht, versuchen sie, sich an die Vergangenheit zu halten. Diese verzweifelten Versuche vertiefen das Bild der Geschichte nicht und die Diskussion über die Schuldfrage einzelner Personen mündet darin, dass deren Darstellungen in vereinfachende Schemata gepresst wird, oft an der Grenze zur Paranoia.

Ich weiß, dass dies schwere Vorwürfe sind. Selbst wenn sie nur einen Teil des journalistischen Milieus betreffen, behagt es mir nicht, wenn panische Reaktionen auf die Gegenwart mit einer kompletten Neurotisierung ihres Bildes in den Medien und einer ernsthaften Vertrauenskrise gegenüber Journalisten und Medien enden.

Politische Reality-Show

Was könnte den Journalismus aus dieser Krise befreien? Eine gewaltsame Rückkehr in die Realität und die Gegenwart: eine Erschütterung, eine Affäre, die das wahnhafte Bild der polnischen politischen Wirklichkeit entschärfen würde, indem sie die Mechanismen des politischen Betriebes mit Hilfe eines neuen, neokonservativen Regierungssystems zeigt. Solch eine Erschütterung hat das Medienspektakel mit dem Titel „Kassetten der Wahrheit“ herbeigeführt, umgesetzt in einer der neuesten Konventionen des Showbusiness: der politischen Reality-Show. Ich bin überzeugt, dass sie das vom Angstwahn getriebene, das von der Regierungsgruppe lancierte Wirklichkeitsbild zerstört hat. Nach dem Genuss des mit politischem Zynismus der Politiker von PiS und Samoobrona überfrachteten TV-Versuchs, ist es nur noch schwer vorstellbar, dass deren Handlungen – abgesehen von kaltem Pragmatismus – von Prinzipien geleitet werden. Und dass der neokonservative Kreuzzug in polnischer Ausführung einen Feind in Gestalt eines abstrakten medialen Systems hat. Der Feind verbirgt sich in den Neokonservativen selbst, die glaubten, dass um der Verwirklichung eigener politischer Ziele willen nicht nur alle Mittel zulässig, sondern auch noch abgesegnet seien.

Und doch ist es eher traurig, dass die Protagonistin dieser Medienshow Abgeordnete einer populistischen Partei ist, die sich eher als Karikatur denn als Ikone der polnischen Demokratie eignet. Traurig ist ebenfalls, dass sich heute der TV-Voyeurismus als die herausragende Form des investigativen Journalismus erweist. Das Bild, das wir in dieser Medienshow bekommen, ist – um auf die Theatermetaphorik zurückzukommen – das einer bitteren Tragikomödie, einer im Übrigen schlecht geschriebenen, mit schlechten Schauspielern besetzten und unter fataler Regie aufgeführten. Besonders tragisch ist dennoch, dass alles einfach wahr ist - obwohl nicht die ganze Wahrheit gezeigt wurde. Niemand ist doch so naiv zu glauben, dass die Teilnahme an einer politischen Reality-Show für Renata Beger eine Mission darstellt. Sie war eine ganz gewöhnliche Eigenwerbung und die Chance zur Rückkehr in die Hauptströmung der Politik. Und ein weiterer Beweis für die Abhängigkeit der Politiker von der Medienwelt. Sollte man sich deshalb nun die Haare raufen und über den Verfall der politischen Sitten und den Wandel der Politik zu einer Art Fernsehshow jammern? Ich glaube, man sollte lieber ein Gegengift zu dieser polnischen „Polit-Reality“ suchen.

Blog

Ich erinnere mich an einen Fall, als Teilnehmer eines Forums aus dem Portal von „Gazeta.pl“ eigenständig einen aggressiven und unverschämten Kommentator aufgespürten, der das Netz mit xenophobem und antisemitischem Schmutzwasser überschwemmt hatte. Sie veröffentlichten seinen Namen. Es stellte sich heraus, dass dies ein lokaler Funktionär der Rechten war. Er musste sich mehrfach entschuldigen.

Auf diese Weise entsteht – nahezu unbemerkt – im Internet eine neue Qualität: der Bürgerjournalismus. Internetzeitungen ermöglichen Verbundenheit rund um gemeinsame Ziele, die Enttarnung ideologischer Posen und zwingen Politiker zu größerer Effektivität im Lösen konkreter Probleme. Deutliches Signal der Notwendigkeit eines solchen Bürgerjournalismus ist die Vehemenz, mit der ihn lokale Beamte bekämpfen. Bei uns steckt der Bürgerjournalismus trotz der Entwicklung von lokalen Internetzeitschriften immer noch in den Kinderschuhen. Dabei ist er doch ein notwendiges Gegengewicht zur Gleichschaltung von Politik und Medien. Deshalb drücke ich ihm die Daumen.

Paweł Goźliński, geboren 1971, ist Leiter der Reportageabteilung der „Gazeta Wyborcza“ und von deren Reportagemagazin „Duży Format“ (Großformat), Doktor der Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaftler, Autor des Buches „Gott Schauspieler. Romantisches Welttheater“.

(Aus dem Polnischen von Christina Marie Hauptmeier)
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