Pomerania und die Ostsee – Euroregionen der Zukunft
Roman Daszczyński

"Meer, unser Meer, treu werden wir dich hüten …", sangen seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Matrosen der polnischen Flotte. Heute ist die Ostsee eine Chance zur Zusammenarbeit zwischen den Anrainerstaaten. Roman Daszczyński, Journalist der Regionalredaktion der "Gazeta Wyborcza" in Danzig, geht entlang der 788 km breiten polnischen Ostseeküste Ängsten und Hoffnungen nach, die die Menschen an die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ihrer Gemeinden und Wojewodschaften knüpfen. Ein besonderes Beispiel sind die Euroregionen Pomerania und Ostsee: für deren Zukunft stehen zwei junge Männer aus Kętrzyn, die sich auf Bornholm für den Beruf des KFZ-Mechanikers ausbilden lassen.

Die Mehrheit der Polen, die an der Ostsee leben, ist sich der Vorzüge der neuen Zusammenarbeit mit den Nachbarnationen nur selten bewusst. Die Auswirkungen jenes Prozesses lernen sie erst nach und nach schätzen – durch das Ansteigen der Lebensstandards im Alltag, durch neue berufliche Perspektiven und persönliche Freundschaften. Die polnische Meeresküste misst 788 Kilometer – beginnend bei der Halbinsel Wolin bis zur Ortschaft Piaski an der Weichselmündung. Hinter dieser Information verbergen sich wesentliche historische, kulturelle und politische Bedingtheiten. Denn wie soll man sich hier nicht daran erinnern, dass der Großteil dieses Landes, viele Städte und Dörfer, jahrhundertelang zu Deutschland gehörte? Als Polen 1945 seine Ostgebiete an die Sowjetunion verlor, mussten Hunderttausende Menschen in den Westen umsiedeln. Stalin verhielt sich wie ein geisterhafter Schachspieler. Den Spielstein, als der die deutschen Bewohner von Ostpreußen und Pommern fungierten, verrückte er in Richtung Berlin, Dortmund und Köln. An die frei gewordene Stelle setzte er die Polen, die aus ihren Häusern im Osten vertrieben worden waren.

Chancen im Westen

Hier sollte man nichts idealisieren. Nur ein Teil der polnischen Gesellschaft repräsentierte in geistiger und materieller Hinsicht westeuropäisches Niveau – dies war hauptsächlich die vom polnischen Adel abstammende Intelligenz, die in den Kriegsjahren äußerst blutig für ihren Patriotismus bezahlen musste. Die neuen polnischen Bewohner der Ostseeregion rekrutierten sich zum größten Teil aus armen Dörfern und Städtchen des Ostens. Für sie bedeutete die Reise in den Westen ein riesiger zivilisatorischer Aufstieg, als sie in den reichen, modernen Städten der Deutschen eintrafen. Sie richteten sich in den für die damalige Zeit attraktiven Behausungen ein und nahmen die Fabriken in Besitz, die trotz der Kriegszerstörungen sich zu funktionierenden Arbeitsplätzen entwickelten. Die ehemaligen Bauern fuhren nun über bessere Straßen als im Osten Europas.

Alte Ängste

Zwei Jahre später begannen die Kommunisten, diesen Landstrich ebenso wie ganz Polen uneingeschränkt zu regieren. Sie haben es nicht verstanden, den Staat zu modernisieren; der zivilisatorische Abstand zu den freien Ländern Westeuropas wuchs mit jedem Jahr. Die Kommunisten verbreiteten – im Rahmen der Propaganda des Kalten Krieges – die Angst, früher oder später würden die Deutschen in die neuen polnischen Ostseegebiete kommen, um sich ihr früheres Eigentum zurückzuholen. Heute gibt es von den Kommunisten keine Spur mehr, aber die Angst ist geblieben. Die rechtspolitischen Populisten profitieren von ihr: „Wir Polen, wir müssen zusammenhalten, denn sonst kommen Fremde und nehmen uns unsere Häuser weg“, so das Credo, das bei tausenden Menschen Gehör findet; insbesondere bei denen, die das durch den Nationalsozialismus ausgelöste Leid persönlich miterlebt haben.

Ach, ihr alten Vorurteile!

Der Schatten des Zweiten Weltkrieges ist in Polen ein anderer als in Deutschland, das in gesellschaftlicher Hinsicht nur teilweise ein halbes Jahrhundert lang im Honecker-Kommunismus eingefroren war. Gravierender ist, dass die Polen zum Großteil auch ihren anderen bedeutenden Nachbarn, den Russen, nicht vertrauen. Auch dies ist eine Folge der fatalen historischen Erfahrungen. Deutsche und Russen sind an der Ostsee den Polen am nächsten; jedes dieser Völker nimmt seine potentiellen Partner durch ein Prisma von hartnäckigen Stereotypen wahr. Wie aus soziologischen Untersuchungen hervorgeht, führte noch 2004 die Hälfte von vierhundert Studenten, die in Szczecin nach ihren Assoziationen zu dem Stichwort „Deutschland“ befragt wurden, an erster Stelle das Wort „Faschismus“ an. Ein Drittel nur nannte das hohe Zivilisationsniveau. Gleichzeitig zeigte sich, dass der typische Deutsche nach Ansicht der Stettiner Studenten ein disziplinierter, fleißiger, moderner und agiler Mensch ist. Die Aufnahme einer Zusammenarbeit zwischen den Nationen muss fast zwangsläufig auf Schwierigkeiten stoßen. Seitens der Polen lebt unter anderem die komplizierte Mischung aus früheren Ängsten und einer neuen Anerkennung der deutschen zivilisatorischen Errungenschaften fort. Es geht also in Richtung Zukunft darum, einen Großteil der Angst und Abneigung zu überwinden.

Lasst uns bei den Fundamenten beginnen

Der Eintritt Polens in europäische Strukturen ist die erste wirkliche Chance, sich von den schädlichen Schemata der Vergangenheit zu befreien. Insbesondere die Verständigung auf der Ebene der Kommunen und Nichtregierungsorganisationen wirkt als Impulsgeber. Basis der Zusammenarbeit sind zwei Euroregionen: Pomerania, eine Partnerschaft des westlichen Teils der polnischen Küste mit deutschen und schwedischen Organisationen, und die Ostsee, die sich die Polen gemeinsam mit den Russen, Dänen, Litauern, Letten, Esten und Schweden teilen. Bei lokalen Kontakten tauchen Ideen und Initiativen auf, die einem Anheben der Lebensqualität im weitesten Sinn dienen. Gute Zusammenarbeit wird mit der Unterstützung von Projekten aus Mitteln der Europäischen Union belohnt. Im Falle der jeweiligen Euroregionen belaufen sich diese Zuwendungen in Höhe von 80 bis 90 Millionen Euro und mehr.

Wie Politik gemacht wird

Warum ist die Unterstützung der internationalen Zusammenarbeit der Kommunen so wichtig? Sie einigen sich auf schnellstem Wege mit den Partnern und ihre Entscheidungen sind so gut wie unabhängig von politischen Ansichten – schwerlich findet man solidere Grundlagen. Dennoch wurden zeigten sich auch Schwierigkeiten, etwa, als Mitte des Jahres 2006 der polnische Seewirtschaftsminister Rafał Wiechecki überraschend die Pläne für den Ausbau des Grenzhafens in Schwedt infrage stellte; ein in Polen typisches Verhalten für rechte Populisten, die gerne Schlagworte zur Verteidigung nationaler Interessen im Munde führen. Es kam zu einem ernsten Missklang in den polnisch-deutschen Beziehungen, denn der Minister hatte sich auf diese Weise „erfolgreich“ vor seiner Wählerschaft präsentieren wollen. Hätte er Kenner der Sache gefragt, so hätte er erfahren, dass der deutsche Hafen keine Konkurrenz für den Hochseehafen in Świnoujście ist. Schwedt soll lediglich kleine Schiffe in Empfang nehmen können. Mehr noch – der Hafen in Szczecin kann von dieser Investition profitieren, dank deutscher Investitionen, die der Verbesserung der Schifffahrtsbedingungen auf der Oder dienen.

Freie Fahrt Richtung Meer

Eine ähnliche Situation findet sich in der Euroregion Ostsee. Die Polen bemühen sich seit Jahren um die Auflösung der Blockade der Pilawa-Meerenge durch die Russen, damit die Schiffe und Yachten aus Elbląg durch das Weichsel-Haff ins offene Meer auslaufen können. Dies wäre in wirtschaftlicher und touristischer Hinsicht für alle von Vorteil. Die russische Regierung ist dennoch uneinsichtig und sagt „njet“. „Wenn es von den Kommunalregierungen im Kaliningrader Gebiet abhinge, dann hätten wir uns schon längst geeinigt“, versichert Sławomir Demkowicz-Dobrzański, Chef des internationalen Sekretariats der Euroregion Ostsee. „Sie wissen besser, was wichtig ist, aber sie haben keinerlei Einfluss auf die internationale Angelegenheit der Pilawa-Meerenge.“

Zwischen Szczecin und Berlin

Im April 2006 befragten Journalisten der Gazeta Wyborcza beinahe viertausend Einwohner Stettins danach, was ihrer Ansicht nach für die Stadtentwicklung am wichtigsten sei. Wirklich wichtig ist den meisten die Öffnung Szczecins für die Zusammenarbeit mit den Deutschen (1751 Stimmen) und die Reinigung der Stadt (1705 Stimmen). Die übrigen Antworten betrafen Modernisierungsfragen: den Bau einer Mehrzweck-Sporthalle, die Errichtung eines modernen Stadtviertels und die Inbetriebnahme einer Schnellbahn. Der Journalist Wojciech Jachim von der Gazeta Wyborcza Szczecin kommentierte die Ergebnisse: „Unser größtes Problem ist das Fehlen einer Vision für ein modernes Szczecin. Wie sehr wir jene brauchen, beweist unsere Faszination für die preußische Vergangenheit der Stadt. Das alte Stettin verbindet man mit Wohlstand, Ordnung und Fortschritt. Es ist traurig, aber wir können nur dann stolz auf diesen unseren Fleck Erde sein, wenn wir Ansichtskarten aus dem Vorkriegs-Stettin betrachten. Wir haben kein ’Vorwärts’-Programm. Doch ich denke (...), dass das preußische Stettin und das sozialistische Szczecin ein geschlossenes Buch ist. Als notwendig Nummer eins zählt eine grenzübergreifende Strategie zur Entwicklung eines neuen, europäischen Szczecin. Wir müssen wissen, woran wir uns halten können und worauf wir bauen.“

Die Backsteinstadt erwacht

Das Beispiel deutscher Städte inspiriert Szczecin. Die Zusammenarbeit mit deutschen Kommunalregierungen ermöglicht auch gemeinschaftliche Bemühungen um EU-Gelder zum Ausbau der Verkehrs-Infrastruktur in Richtung Berlin, die kulturellen und wirtschaftlichen Kontakte mit dieser großen europäischen Metropole müssen ausgedehnt werden. Mehrfach hilfreich erweist sich Deutschland auch mit seiner Erfahrung im Umgang mit der Bürokratie der Europäischen Union. Im Jahr 2004 verzögerte das Marschallamt in Szczecin die Nutzung von 30 Millionen Euro, die im Rahmen des Interreg-Programmes aus europäischen Mitteln Straßenbau, Umweltschutz, Wirtschaftsförderung oder Schulungen verstärken sollten.

Schließlich kümmerten sich die deutschen Verantwortlichen – das Wirtschaftsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern sowie die deutsche Seite der Euroregion Pomerania – um das Programm und fuhren nach Szczecin, um die Polen zum Handeln zu bewegen. Die Stettiner Beamten warteten unnötig mit der praktischen Umsetzung, bis die Europäische Kommission ein bestimmtes Dokument billigte – obgleich dies zur Auszahlung der Gelder nicht notwendig war. Auch in organisatorischer Hinsicht fanden die Polen sich nicht zurecht. Norbert Obrycki, Direktor der Euroregion Pomerania, betont gerne: „Es lohnt sich, sich Mühe zu geben. Die Europäische Union ist ein Verein von Fleißigen, die ganz ordentlich ihre Ellenbogen gebrauchen.“ Seiner Auffassung nach wissen die Einwohner Stettins nicht einmal, wie sehr sie bereits von der grenzübergreifenden Zusammenarbeit profitieren. Dank Millionenhilfen von der EU ist es gelungen, wichtige Straßen in der Stadt zu erneuern, etliche kulturelle Veranstaltungen zu finanzieren und den Bau einer großen Kläranlage in Pommern zu beginnen. Die Zusammenarbeit zwischen den Euroregional-Partnern schafft neue Arbeitsplätze; Vorbild ist Großbritannien, wo bis zu 30 Prozent der Arbeitsplätze Nichtregierungsorganisationen schaffen, die Nutznießer von Unions-Geldern sind.

Wellness für Ost und West

Man könnte noch zahlreiche Beispiele anführen. Die Zusammenarbeit der Kommunen auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs ermöglicht eine gemeinsame Werbestrategie und die Initiierung von Internetauftritten. So erleben Polens Wellnesszentren und Pensionen in den Wojewodschaften an der Ostsee einen wahren Boom. Erholungssuchende aus dem Ausland – vornehmlich Deutsche, aber auch Skandinavier – machen dort bereits zwanzig Prozent der Gäste aus. Das kann nicht weiter verwundern, wo doch ein einwöchiger Aufenthalt in einem polnischen Gesundheitszentrum um die Hälfte günstiger ist als in einem deutschen, bei vergleichbarem Standard.

Seit Jahren funktioniert die Zusammenarbeit von polnischen und deutschen Tourismusorganisationen reibungslos wie etwa die Werbung für die touristischen Attraktionen der Region um das Stettiner Haff. Initiator des Projektes ist die deutsche Seite, die daran glaubt, das Haff könne für die Einwohner Berlins zu einem festen Ort des Wochenendurlaubs werden. Die ersten ernsthaften Versuche für dieses Unterfangen fanden im Sommer 2004 mit Beteiligung der Gemeinden Uckermark und Barnim statt. Auch ein hervorragendes Beispiel für die Zusammenarbeit ist die polnisch-deutsche Wirtschaftsmesse in Torgelow. Der Bürgermeister der Stadt, Ralf Gottschalk, fährt eigens nach Szczecin, um hier zur Teilnahme an dieser Veranstaltung zu ermuntern. Die Messe 2004 hat 83 Firmen nach Torgelow gezogen – darunter zehn polnische. Zwei Jahre später waren es bereits zwanzig polnische Firmen. Ähnliche Messen werden ebenfalls in Schwedt und Trzebieża organisiert.

Für die Partnerschaft ausgebildet

„Weit reichende Wirtschaftskontakte sind ungeheuer wichtig, aber die Zusammenarbeit wird sich um vieles besser entwickeln, wenn wir es schaffen, unsere sozialen Kontakte zu intensivieren“, ist Sławomir Demkowicz-Dobrzański von der Euroregion Ostsee überzeugt. „Und am leichtesten gelingt dies mit Hilfe von Kindern und Jugendlichen, durch die Förderung des Sprachenlernens. In der Jugend entstandene Sympathien werden in der Zukunft Früchte tragen. Sie erschweren gleichfalls einen Blick durch das Kaleidoskop verletzender Stereotype auf die Nachbarvölker.“

Dies geschieht bereits, ebenfalls dank der Hilfe der EU. Im September 2005 fuhren 1.500 Teenager aus polnischen, deutschen und schwedischen Schulen nach Stargard Szczeciński zum 10. Polnisch-Deutschen Jugend-Festival. Ein ganzes Wochenende lang führten sie auf einer Bühne ihre künstlerischen Talente vor und nahmen an sportlichen Wettkämpfen und Freilichtveranstaltungen teil. In Elbląg findet seit 1999 der Euroregional-Kunst-Wettbewerb „Wir sind vom Meer“ statt. Im vergangenen Jahr kamen 2.300 Kinder aus Litauen, Dänemark, dem Kaliningrader Kreis und Polen hier zusammen. Einige Dutzend Finalisten feierten eine Vernissage und erhielten einen einwöchigen Workshop an der polnischen Küste.

Inzwischen suchen Delegationen aus den Partnerländern Jugendliche aus Polen, die eine Ausbildung im Ausland machen wollen. Zu Beginn des Jahres 2005 fuhren zu diesem Zweck Vertreter der Stadtregierung von Bornholm durch Städte der Euroregion Ostsee. Sie besuchten Elbląg, Olstyn, Danzig und kleinere Städte. Zwei Jungen aus Kętrzyn in Masuren, dem ehemaligen Rastenburg, machten von dem Angebot Gebrauch. „Ich habe die beiden auf Bornholm getroffen“, sagt Sławomir Demkowicz-Dobrzański. „Sie besuchen dort eine Schule, die einem College ähnelt. Die beiden erlernen den Beruf des Automechanikers und sehen zufrieden aus. Zwei sind nicht viele, aber immerhin ein Anfang.“

Roman Daszczyński, ur. 1967, absolwent wydziału nauk politycznych Uniwersytetu Gdańskiego, dziennikarz gdańskiego oddziału „Gazety Wyborczej“, wcześniej pracował w „Gazecie Gdańskiej” i „Dzienniku Bałtyckim“, mieszka w Gdańsku.

(Aus dem Polnischen von Christina Marie Hauptmeier)
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